* 11 *

11. Auf der Spur
Mond

Sally sah sie kommen.

Sie sprang vom Fenster zurück, strich ihre Röcke glatt und sammelte sich. Nur Mut, Mädchen, sagte sie sich. Du kannst es schaffen. Du setzt einfach dein freundliches Wirtinnengesicht auf, dann schöpfen sie keinerlei Verdacht. Sie flüchtete hinter den Schanktisch, und zum ersten Mal während der Öffnungszeiten zapfte sie sich einen Krug Springo Spezial und trank einen großen Schluck.

Igitt. Sie hatte die Brühe noch nie gemocht. Zu viele tote Ratten im Fass für ihren Geschmack.

Während sie noch einen Schluck tote Ratte nahm, schnitt der grelle Strahl eines Scheinwerfers in das Cafe und glitt über die Anwesenden hinweg. Kurz leuchtete er Sally direkt in die Augen, dann wanderte er weiter und erhellte die blassen Gesichter der Nordhändler. Die Kaufleute verstummten und wechselten besorgte Blicke.

Einen Augenblick später vernahm Sally das dumpfe Poltern schwerer Tritte. Die Landebrücke wackelte, als die Meute über den Steg gerannt kam, und im Cafe klirrten nervös die Teller und Gläser. Sally stellte ihren Krug weg, straffte ihre Gestalt und setzte unter größter Anstrengung ein freundliches Lächeln auf.

Krachend flog die Tür auf.

Der Jäger trat ein. Hinter ihm konnte Sally im Strahl des Scheinwerfers die Meute sehen. Sie standen auf der Landebrücke, einer hinter dem anderen, die Pistolen im Anschlag.

»Guten Abend, Sir. Womit kann ich dienen?«, flötete Sally nervös.

Der Jäger registrierte zufrieden das Zittern in ihrer Stimme. Es gefiel ihm, wenn die Leute Angst hatten.

Er schritt langsam zum Schanktisch, beugte sich vor und sah Sally in die Augen.

»Sie können mir eine Auskunft geben. Ich weiß, dass Sie können.«

»Ach ja?« Sally versuchte, höflich und interessiert zu klingen. Doch der Jäger hörte etwas anderes. Er hörte, dass sie erschrak und auf Zeit spielen wollte.

Gut, dachte er. Sie weiß etwas.

»Ich verfolge eine gefährliche Bande von Terroristen«, fuhr er fort und beobachtete Sally dabei genau. Sie bemühte sich, das freundliche Wirtinnengesicht zu behalten, doch für den Bruchteil einer Sekunde entglitt es ihr, und ein anderer Ausdruck huschte über ihre Züge: Überraschung.

»Es überrascht Sie, dass ich Ihre Freunde als Terroristen bezeichne, habe ich Recht?«

»Nein«, erwiderte Sally schnell. Und als sie begriff, was sie gesagt hatte, stotterte sie: »Ich ... so habe ich das nicht gemeint. Ich...«

Sie gab auf. Es war nicht mehr zu ändern. Wie hatte es so leicht passieren können? Es lag an seinen Augen, dachte sie, an diesen schmalen, hellen Augenschlitzen, die einem wie Scheinwerfer ins Gehirn leuchteten. Wie dumm von ihr, dass sie geglaubt hatte, sie könnte einen Jäger überlisten. Ihr Herz pochte so laut, dass es bestimmt auch der Jäger hörte.

Selbstverständlich hörte er es. Das war eines seiner Lieblingsgeräusche, das Herzklopfen eines in die Enge getriebenen Opfers. Genüsslich lauschte er noch einen Augenblick, dann sagte er: »Sie werden uns jetzt verraten, wo sie sind.«

»Nein«, murmelte Sally.

Dieser kleine Akt der Aufsässigkeit schien den Jäger nicht zu stören. »Doch, doch«, erwiderte er trocken und lehnte sich gegen den Schanktisch. »Sie haben ein hübsches Lokal, Sally Mullin. Sehr hübsch. Aus Holz, nicht wahr? Und nicht mehr ganz neu, wenn ich mich recht erinnere. Mittlerweile schön trocken, das Holz. Brennt hervorragend, habe ich mir sagen lassen.«

»Nein ...«, flüsterte Sally.

»Nun, dann mache ich Ihnen einen Vorschlag. Sie sagen mir, wohin Ihre Freunde sind, und ich verlege meine Zunderbüchse ...«

Sally sagte nichts. Ihre Gedanken überschlugen sich, doch sie ergaben keinen Sinn. Sie musste daran denken, dass sie vergessen hatte, die Löscheimer wieder aufzufüllen, nachdem der Spüljunge die Geschirrtücher in Brand gesteckt hatte.

»Na schön«, sagte der Jäger. »Dann gehe ich jetzt raus und sage den Jungs, dass sie das Feuer legen sollen. Ich schließe die Tür hinter mir, wenn ich gehe. Wir möchten doch nicht, dass jemand hinausrennt und verletzt wird.«

»Sie können doch nicht ...«, brach es aus Sally hervor, die begriff, dass der Jäger nicht nur ihr geliebtes Cafe niederbrennen wollte, sondern auch beabsichtigte, es mit ihr darin niederzubrennen. Von den fünf Nordhändlern gar nicht zu reden. Sie schielte zu ihnen hinüber. Sie tuschelten aufgeregt miteinander.

Der Jäger hatte nichts mehr zu sagen. Es war genau so gekommen, wie er erwartet hatte, und jetzt musste er zeigen, dass er es ernst meinte. Abrupt drehte er sich um und ging zur Tür.

Sally sah ihm nach, zornig jetzt. Wie konnte er es wagen, in ihr Cafe zu kommen und ihre Gäste einzuschüchtern! Und ihr damit drohen, sie alle zu verbrennen! Dieser Mensch war nichts weiter als ein brutaler Kerl. Sie konnte brutale Kerle nicht ausstehen.

Unbeherrscht wie immer schoss Sally hinter dem Schanktisch hervor. »Warten Sie!«, schrie sie.

Der Jäger schmunzelte. Es klappte. Wie immer. Geh weg und lass sie einen Augenblick nachdenken. Der Jäger blieb stehen, drehte sich aber nicht um.

Ein kräftiger Tritt Sallys mit dem rechten Stiefel traf ihn am Bein.

»Brutaler Kerl«, kreischte Sally.

»Närrin«, zischte der Jäger und hielt sich das Bein. »Das werden Sie bereuen, Sally Mullin.«

Ein Oberwächter aus seiner Meute erschien. »Probleme, Sir?«, erkundigte er sich.

Den Jäger fuchste es, dass ihn jemand so würdelos herumhüpfen sah. »Nein«, bellte er. »Gehört alles zum Plan.«

»Die Männer haben Reisig gesammelt und legen es jetzt unter das Cafe, wie Sie befohlen haben, Sir. Der Zunder ist trocken, und wenn man die Feuersteine schlägt, sprühen die Funken.«

»Gut«, sagte der Jäger grimmig.

»Verzeihung, Sir«, meldete sich eine Stimme mit schwerem Akzent hinter ihm. Einer der Nordhändler war vom Tisch aufgestanden und zu ihm getreten.

»Ja?«, stieß der Jäger zwischen den Zähnen hervor, fuhr auf einem Bein herum und sah den anderen an. Der Mann stand verlegen da. Er trug die dunkelrote Kleidung der Hansekaufleute, abgerissen und schmutzig von der Reise. Ein speckiges Stirnband aus Leder bändigte sein widerspenstiges blondes Haar, und sein Gesicht wirkte käsig im grellen Scheinwerferlicht.

»Ich glaube, wir können Ihnen die gewünschte Auskunft geben?«, fuhr der Kaufmann fort, wobei seine Stimme in der für ihn ungewohnten Sprache mühsam nach den richtigen Worten suchte und sich wie zu einer Frage hob.

»Ach ja?«, erwiderte der Jäger, dessen Schmerzen im Bein nachließen. Endlich konnte er die Spur wieder aufnehmen.

Sally sah den Nordhändler entsetzt an. Wie konnte er etwas wissen? Dann begriff sie. Er hatte sie durchs Fenster beobachtet.

Der Kaufmann mied ihren vorwurfsvollen Blick. Es war ihm sichtlich peinlich, aber offensichtlich hatte er die Drohungen des Jägers gehört und fürchtete um sein Leben.

»Wir glauben, dass die Gesuchten fort sind? In einem Boot?«, sagte der Kaufmann langsam.

»In einem Boot! In was für einem Boot?«, fragte der Jäger barsch, wieder ganz der Chef.

»Wir kennen die Boote hier nicht? Ein kleines Boot mit roten Segeln? Eine Familie mit einem Wolf?«

»Einem Wolf? Ach ja, der Köter.« Der Jäger trat bedrohlich nahe an den Kaufmann heran und knurrte leise: »Wohin? Flussaufwärts oder flussabwärts? Richtung Berge oder Richtung Port? Überlegen Sie genau, Freundchen, wenn Sie nicht wollen, dass es Ihnen und Ihren Begleitern heute Nacht zu warm wird.«

»Flussabwärts. Richtung Port«, murmelte der Kaufmann, dem der heiße Atem des Jägers unangenehm war.

»Gut«, sagte der Jäger zufrieden. »Ich schlage vor, Sie und Ihre Freunde gehen jetzt, solange Sie noch können.«

Die anderen vier Kaufleute standen wortlos auf und traten, schuldbewusst Sallys entsetztem Blick ausweichend, zu ihrem Kollegen. Eilends schlüpften sie in die Nacht hinaus und überließen Sally ihrem Schicksal.

Der Jäger verneigte sich spöttisch. »Auch ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Madam«, sagte er. »Danke für Ihre Gastfreundschaft.« Damit stürmte er hinaus und knallte die Tür zu.

»Vernagelt die Tür!«, brüllte er wütend. »Und die Fenster. Sie darf nicht entkommen!«

Der Jäger stapfte über den Steg. »Besorgt mir ein Verfolgungsschnellboot«, befahl er dem Melder, der am Ende des Stegs wartete. »An den Kai. Sofort!«

Am Ufer angekommen, drehte der Jäger sich um und blickte zu Sally Mullins Cafe. Er hätte gern noch gesehen, wie die ersten Flammen emporzüngelten, doch er blieb nicht stehen. Er musste der Spur folgen, solange sie noch heiß war. Während er zum Kai schritt, um dort auf das Verfolgungsschnellboot zu warten, lächelte er zufrieden.

Niemand, der ihn zum Narren halten wollte, kam ungestraft davon.

Hinter dem lächelnden Jäger trottete der Lehrling. Er war beleidigt, weil er in der Kälte vor dem Cafe hatte warten müssen, aber auch sehr aufgeregt. Er schlang den dicken Umhang um sich und verschränkte die Arme voller Vorfreude. Seine dunklen Augen glänzten, und seine Wangen waren gerötet von der kalten Nachtluft. Jetzt begann das große Abenteuer, das ihm sein Meister prophezeit hatte. Es war der erste Schritt zur Rückkehr seines Meisters. Und er war dabei, denn ohne ihn ging nichts. Er war der Berater des Jägers. Er würde die Jagd beaufsichtigen. Er würde mit seinen Zauberkräften die Situation retten. Bei diesem Gedanken kamen ihm bange Zweifel, doch er schob sie beiseite. Er kam sich ungemein wichtig vor. Am liebsten hätte er geschrien. Oder Luftsprünge gemacht. Oder jemanden erschossen. Aber das durfte er nicht. Er musste tun, was sein Meister ihm befohlen hatte, und dem Jäger wachsam und leise folgen. Aber er könnte das Königsbalg erschießen, wenn er sie zu fassen bekam – das würde ihr eine Lehre sein.

»Hör auf zu träumen und steig ins Boot«, blaffte der Jäger ihn an. »Geh nach hinten, wo du aus dem Weg bist.«

Der Lehrling tat wie geheißen. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber der Jäger machte ihm Angst. Er stieg vorsichtig ins Heck des Bootes und quetschte sich in die Ecke vor den Füßen der Ruderer.

Der Jäger betrachtete das Schnellboot beifällig. Es war lang, schmal und schnittig und schwarz wie die Nacht. Mit seinem polierten Lackanstrich glitt es so leicht durchs Wasser wie Schlittschuhkufen übers Eis. Angetrieben von zehn voll austrainierten Ruderern, war es schneller als jedes andere Wasserfahrzeug.

Am Bug war es mit einem starken Suchscheinwerfer und einem stabilen Dreibein ausgestattet, auf das eine Pistole montiert werden konnte. Der Jäger ging vorsichtig nach vorn und setzte sich auf die schmale Planke hinter dem Dreibein. Mit flinker und kundiger Hand befestigte er daran die Silberpistole der Meuchelmörderin. Dann fischte er eine Silberkugel aus seinem Kugelbeutel, sah sie sich genau an, um sicherzugehen, dass es die gewünschte war, und legte sie in einen kleinen Kasten neben der Pistole. Schließlich nahm er fünf normale Kugeln aus der Munitionskiste des Boots und legte sie in einer Reihe neben die Silberkugel. Er war bereit.

»Los!«, rief er.

Das Schnellboot löste sich sanft und geräuschlos vom Kai und glitt in die schnelle Strömung in der Mitte des Flusses. Ehe es in der Dunkelheit verschwand, drehte sich der Jäger noch einmal um und sah erwartungsvoll zum Ufer.

Eine Feuerwand ragte in die Nacht. Sally Mullins Cafe stand in Flammen.

Septimus Heap 01 - Magyk
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